Buchkritik: Fantastische Literatur aus Südkorea
Titel: Die Vegetarierin
Autorin: Han Kang
Genre: Magischer Realismus
Wertung: 5 von 5 möglichen Büchern
Ein paar Jahre vor dem aktuellen Hype um südkoreanische Kultur veröffentlicht die Autorin Han Kang 2015 ein Buch, das die südkoreanische Gesellschaft erschütterte. In „Die Vegetarierin“ webt sie in hypnotischen, traumhaften Bildern und gleichzeitig nüchterner Sprache ein Werk des magischen Realismus, wie man es in der westlichen Literatur wohl seit Kafka nicht mehr gesehen hat. Das Ergebnis ist alptraumhaft und wunderschön zugleich.
Cover des Buches "Die Vegetarierin" von Han Kang, Quelle: atb-Verlag
Das Buch ist in drei Teile aufgeteilt, welche die Geschichte jeweils aus der Sicht einer anderen Person erzählen. Die eigentliche Hauptperson ist jedoch Yeong-Hye, welche eines Tages nach blutigen Alpträumen beschließt, kein Fleisch mehr zu essen und darauffolgend eine tiefgreifende Verwandlung durchmacht, die immer mehr Mitglieder ihrer Familie in Verzweiflung bringt.
Der erste Teil wird aus der Sicht ihres Ehemanns erzählt, dem es gar nicht schmeckt, nun allen Ernstes mittags kein Fleisch mehr zu essen. Der zweite Teil ist aus der Sicht ihres Schwagers geschrieben, einem rücksichtslos exzentrischen Künstler, der in Yeong-Hye seine Muse zu sehen glaubt, die ihm jedoch stattdessen sein Verderben bringen wird. Im letzten Teil nimmt die Erzählung schließlich die Perspektive ihrer Schwester ein, gerade als der Roman endgültig vom Poetischen ins Schreckliche kippt.
Im Gegensatz zu den Werken von anderen modernen Vertretern des magischen Realismus wie Südamerikas Gabriel García Márquez oder Salman Rushdie, in denen poetische Bilder immer mit einem leichten und humorvollen Ton daherkommen, nimmt Han Kang das Konzept „Realismus“ ihres Genres ernster und setzt sich ganz praktisch mit den Auswirkungen der Magie auf den Alltag ihrer Protagonist:innen auseinander. Wenn sie ihre mitunter grotesken Ideen auf diese Weise bis zur Schmerzensgrenze und darüber hinaus zu Ende denkt, gehen die poetischen Bilder in einen so tristen Realismus über, dass es einem manchmal beinahe schwerfällt, weiterzulesen.
Gegen Ende geht sie bewusst das Risiko ein, ins Groteske abzudriften, beispielsweise wenn Yeong-Hye versucht, Fotosynthese zu betreiben. Dass es dabei nicht lächerlich wird, gelingt nur dank Han Kangs Prosa, mit der sie die Geschichte um die missverstandene Yeong-Hye so konsequent nüchtern beschreibt, dass man es einfach akzeptiert, weiterliest und sich erst später wundert, was man da eigentlich gerade vorgesetzt bekommen hat. Vegetarismus jedenfalls ist nur bedingt ein Bestandteil davon.
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