Eine Gefährdung der Demokratie?
Präsidentschaftswahlen in Frankreich
Am Sonntag, dem 24. April 2022, wurde Emmanuel Macron von den französischen Bürgern für weitere fünf Jahre wiedergewählt. Der Nichtwechsel des Präsidenten ist jedoch keineswegs Ausdruck einer Konstanz des politischen Spektrums und offenbart einige Schwächen des französischen Wahlsystems.
Mehrheitssystem und strategische Wahl
Obwohl man denken könnte, dass zwölf Kandidat:innen das politische Spektrum Frankreichs gut repräsentieren und somit jeder in der Lage ist, für einen Kandidaten zu stimmen, der einem gefällt, ist das Mehrheitswahlsystem so angelegt, dass es die französischen Bürger:innen dazu ermutigt, im ersten Wahlgang für einen Kandidaten oder eine Kandidatin zu stimmen, der oder die genügend Stimmen erhält, um sich für den zweiten Wahlgang zu qualifizieren. Im zweiten Wahlgang lässt dieses System einen großen Teil der Bürger:innen in ihren politischen Idealen unrepräsentiert und bringt sie dazu, für den Kandidaten oder die Kandidatin zu stimmen, der oder die „am wenigsten schlimm“ ist. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2017 hat der Einzug der extremen Rechten (der Partei Rassemblement National mit Marine Le Pen an der Spitze) in die zweite Runde einen großen Teil der französischen Bevölkerung erschreckt und das Bewusstsein für den Rechtsruck geschärft, den das politische Spektrum in Frankreich seit mehreren Jahren durchläuft. Infolgedessen hatte ein Großteil der linken Wählerschaft in Frankreich Emmanuel Macron gewählt, der sich zurzeit weder als rechts noch als links bezeichnete, um die extreme Rechte zu verhindern.
Fünf Jahre später lässt sich die französische Linke nicht mehr von Macrons angeblicher Position der Mitte täuschen und ist seit dem ersten Wahlgang dabei, einem echten linken Kandidaten den Einzug in den zweiten Wahlgang zu ermöglichen. Doch obwohl Jean Luc Mélenchon (Vorsitzender der Partei La France Insoumise), der einzige linke Kandidat, der genügend Stimmen für den Einzug in die Stichwahl sammeln konnte, strategisch sehr stark gewählt wurde, erhielt er am 10. April 21,95 % der Stimmen und landete auf dem traurigen dritten Platz, mit nicht einmal 2 % weniger als die Kandidatin der extremen Rechten (23,15%). Vor allem in den französischen Überseedepartements sowie in den Großstädten stieg die strategische Stimmabgabe für Mélenchon im Vergleich zu 2017 an: +10,5 Punkte in Paris, +11,1 in Straßburg und sogar +32 Punkte in Guadeloupe. Der amtierende Präsident Emmanuel Macron hingegen führte den ersten Wahlgang mit 27,84 % der Stimmen an, obwohl er ein ökologisches Programm verfolgte, das von den Experten des IPCC stark abgelehnt wurde, und wirtschaftliche Vorschläge machte, von denen nur die Reichsten profitieren würden.
Ein gefährlicher Anstieg der Rechtsextremen
Die Präsenz der Rechtsextreme im zweiten Wahlgang, die 2017 erschreckend war, ist 2022 keine Überraschung mehr. Fast ein Drittel der Wähler, die im ersten Wahlgang zur Urne gingen, entschieden sich für einen Kandidaten der extremen Rechten, ein Rekord für eine Präsidentschaftswahl. Marine Le Pen, Eric Zemmour und Nicolas Dupont-Aignan kamen zusammen auf 32,25 % der abgegebenen Stimmen. Im zweiten Wahlgang, als dieselben beiden Kandidat:innen wie 2017 gegeneinander antraten, erzielte Marine Le Pen 8% mehr Stimmen (34% im Jahr 2017 gegenüber 42% im Jahr 2022). Erstaunlich ist, dass 13 % der Melenchon-Wähler im zweiten Wahlgang für Le Pen gestimmt haben. Fünf Jahre später wird der Damm gegen die extreme Rechte immer brüchiger. Dieser Aufstieg der Rechtsextremen und der Wählerschaft von Emmanuel Macron erfolgte auf Kosten der beiden traditionellen französischen Parteien: der Sozialistischen Partei (Parti Socialiste) auf der linken und den Republikanern (Les Républicains) auf der rechten Seite. Obwohl sie vor zehn Jahren noch die meisten Wähler auf sich vereinten, schnitten sie in der ersten Runde mit 1,8 % für Anne Hidalgo (PS) bzw. 4,78 % für Valérie Pécresse (LR) lachhaft schlecht ab. Spielt es eine Rolle, dass beide Parteien in diesem Jahr Frauen an der Spitze haben?
Wahlenthaltung und Demokratie
Ein weiteres Phänomen mit steigender Tendenz ist die Wahlenthaltung. Während 2017 die Wahlenthaltung im ersten Wahlgang 22,2 % betrug, liegt sie 2022 bei 26,31 %, dem höchsten Wert für eine Präsidentschaftswahl seit 20 Jahren. Wenn man die Wahlenthaltung im ersten Wahlgang berücksichtigt, liegt sie in diesem Jahr im ersten Wahlgang vor dem Kandidaten mit den meisten Stimmen: dem amtierenden Präsidenten Emmanuel Macron. Im zweiten Wahlgang lag die Wahlenthaltung bei 28,01 %, also 3 Prozentpunkte höher als 2017 mit denselben Kandidaten. Die Zahl der Nichtwähler im zweiten Wahlgang war somit höher als die Zahl der Wähler von Marine Le Pen. Die Gründe für die Wahlenthaltung sind vielfältig, aber es gibt dennoch in Frankreich immer mehr Bewegungen, die sich für die Wahlenthaltung aussprechen und sie als engagierten politischen Akt betrachten. Indem sie nicht wählen gehen, weigern sich die Nichtwähler:innen, an einem Wahlsystem teilzunehmen, das sie für undemokratisch halten. In der Zeit zwischen den Wahlen kam es in Paris zu Demonstrationen, auf denen auf Schildern zu lesen war: „Ni Macron, Ni Le Pen“. Doch auch wenn der Wunsch, sich durch Wahlenthaltung auszudrücken, legitim ist, wird sich an dem manchmal als undemokratisch empfundenen Mehrheitssystem nichts ändern, solange die Wahlenthaltung nicht anerkannt wird.
Letzte Hoffnung
Es gibt auf jeden Fall noch eine Chance für die französische Linke, ihre Stimme zu erheben und vertreten zu werden: die Parlamentswahlen. Am 12. Juni 2022 haben die Bürger die Möglichkeit, ihre Stimme für die Abgeordneten abzugeben, die die Nationalversammlung bilden. Wenn eine andere Partei als die des Präsidenten die Mehrheit der Stimmen erhält, dann schlägt diese Partei den Premierminister vor. Wenn die Mehrheit relativ ist, haben die Abgeordneten der Opposition die Macht, die Verabschiedung von Gesetzen zu verhindern. Nur, da die Parlamentswahlen nach den Präsidentschaftswahlen stattfinden, tendiert das Volk im Allgemeinen dazu, dem gewählten Präsidenten die Versammlung zu geben, die ihn zum Regieren befähigt. Bis Juni kann die französische Linke Hoffnung schöpfen!
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